Mit „Joëlette“ in den Wald

Heinz-Sielmann-Stiftung bietet neue Hilfsmittel für Rollstuhlfahrer an

Quelle-Artikel: Eichsfelder Tageblatt vom 25.10.2022 (Nadine Eckermann)

Rikscha, Sulki, Liegefahrrad, Schlitten – die Assoziationen, die am Montag auf Gut Herbigshagen beim Anblick der neuen Gefährte im Fuhrpark aufkamen, waren ganz unterschiedliche. „Joëlette“ und „Joëlette Kid“ heißen die Hilfsmittel korrekt. Sie dienen dazu, Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, neue Möglichkeiten zu eröffnen – das Wandern in freier Natur.                               

Carolin Ruh, Vorstand der Heinz-Sielmann-Stiftung, erklärt: „Wir haben hier viel Gelände, das man nicht mit dem normalen Rollstuhl befahren kann. Also haben wir überlegt, wie wir diesen Menschen die Möglichkeit geben können, sich in der Natur zu bewegen.“ Die Wahl fiel auf eine „Joëlette“ für Erwachsene und eine „Joëlette Kid“ für Kinder. Das Gefährt für Kinder besteht aus einer Sitzschale, die über zwei Räder und eine Haltestange bewegt werden kann. Geeignet ist es für Kinder mit einem Gewicht von bis zu 25 Kilogramm mit einer Begleitperson – und in seiner Funktion als All-Terrain-Rollstuhl bereits erprobt: Ruh berichtet, dass sich ein an einer Freizeit teilnehmendes Kind ein Bein gebrochen habe. Dank der „Joëlette Kid“ habe es die Möglichkeit gehabt, mit den anderen Kindern an Wanderungen teilzunehmen.

Foto: VR-Bank Mitte eG

Für Erwachsene und Jugendliche, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, stellt das Naturerlebniszentrum Gut Herbigshagen die einrädrige „Joëlette“ zur Verfügung. Für sie sind zwei Begleitpersonen nötig, eine, die sich um das Ziehen und Lenken kümmert, eine für das Gleichgewicht. Während der Vorbereitungen vor der Tour ähnelt das Gefährt einem Liegefahrrad. Der Passagier nimmt in einem Sitz in der Mitte Platz, dann wird die „Joëlette“ aufgebockt und der Vordermann mit einem Gurtsystem ausgestattet. Der Hintermann fasst zwei Griffe und schiebt den Wanderrollstuhl.

„Beide lassen sich zusammenfalten und mit dem Auto transportieren“, erklärt Ruh. Denn: Die Touren-Hilfsmittel können von Nutzerinnen und Nutzern auch – beispielsweise übers Wochenende – ausgeliehen werden. Dabei spiele zwar die Wegbeschaffenheit eine Rolle, doch auf den Rollstuhl angewiesene Menschen seien dadurch deutlich flexibler, erklärt Ruh. Die Wege rund um die Sielmann-Stiftung seien zu 80 Prozent für die Gefährte geeignet. Die, die nicht gut zu befahren seien, hätten einfach eine recht große Steigung.

Marco Schnyder und seine Frau Dr. Barbara Schnyder sind am Montag die ersten Experten, die die Hilfsmittel testen. Beide sitzen im Rollstuhl – und beide kennen sich mit den Hindernissen aus, die sie aus diesem Grund im Alltag und eben auch auf Reisen zu überwinden haben. Sie nennen Beispiele wie den ÖPNV: Busse seien üblicherweise darauf ausgelegt, dass ein Rollifahrer oder eine Rollifahrerin mit einem Fußgänger als Begleitperson unterwegs ist. Das Paar sei häufig gemeinsam auf Tour, sobald ein Ausflug in die Natur anstehe, orientierten sich die beiden oft an „ausgetretenen Wegen“, sagt Marco Schnyder – bei bekannten Wanderwegen sei die Beschaffenheit im Vorfeld bekannt und bestenfalls auf wheelmap.org vermerkt. Mit den Hilfsmitteln werde dazu beigetragen, Menschen mit Beeinträchtigung eine weitere Möglichkeit zu geben, das zu erleben, was Fußgänger ganz selbstverständlich tun könnten.

„Riesenbaustein“ auf dem Weg zur Modellkommune

Das Engagement der Partner lobte auch Annelore von Hof, die in Vertretung des Bürgermeisters und als Leiterin des Fachdienstes Soziales beim Vorstellungstermin der „Joëlettes“ dabei war. „Wir sind auf dem Weg, Modellkommune für Inklusion zu werden“, erklärte sie. Mit dem Rolliwander-Angebot sei ein „Riesenbaustein“ dazu beigetragen worden. Immerhin beinhalte das Zwölf-Punkte-Papier, das sich die Stadtverwaltung als Leitlinie erstellt hat, auch die Maßgabe, Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gleichermaßen die Gestaltung ihrer Freizeit zu ermöglichen.

Björn Henkel überreichte den symbolischen Spendenscheck: Die VR-Stiftung der Volksbanken und Raiffeisenbank in Norddeutschland und die VR Bank Mitte eG hatten die Finanzierung der Wanderrollstühle übernommen, die VR-Stiftung spendete 9000 Euro, die VR Bank Mitte 1000 Euro. Der Vorstand machte deutlich, sein Bankhaus unterstütze Ideen wie diese gern – und helfe auch, wenn es darum gehe, größere Beträge wie diesen aus der „Herz für die Region“-Aktion zu besorgen. „Gute Ideen für die Region sind immer gern gesehen“, machte er Mut, sich auf mitmachbank.de umzusehen und regionale Projekte zu bewerben.

Die Heinz-Sielmann-Stiftung hat dies getan – und damit einen weiteren Beitrag zur Barrierefreiheit auf dem Gut geschaffen. Ruh erklärte, dass mittlerweile außer den Zugängen zu den Schauställen auch der zum Brunnen geeignet sei, um dorthin mit dem Rollstuhl zu gelangen – aber auch mit dem Kinderwagen, denn von Maßnahmen wie dieser profitierten ja auch Familien. „Oft sind es die kleinen Veränderungen, die viel ausmachen“, sagte sie und dankte den Schnyders, die ihre Expertise einbrächten.

Die „Joëlettes“ können online unter gut-herbigshagen.de gebucht werden. Ein Tagespass kostet zehn Euro. Von dem Geld sollen eventuelle Reparaturen bezahlt werden, erklärt Ruh. Wer Interesse hat, sollte sich im Vorfeld informieren, ob das Hilfsmittel für die individuelle Beeinträchtigung geeignet ist, und ein bisschen Zeit mitbringen, um sich beim ersten Mal die Handgriffe zeigen zu lassen, die zur Nutzung nötig sind.